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Eine Lehrveranstaltung an der Philipps-Universität Marburg vom WS 1982/83 bis SoSe 2017
Konflikte in Gegenwart und Zukunft

gemeinsam mit dem Fenster ins WWW Zentrum für Konfliktforschung

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Fernreise

Veranstaltung 13 im Wintersemester 2003-2004

09.02.2004
 

Abstract

Das Fiasko deutscher Verkehrspolitik

Seit Jahren ist die verkehrspolitische Diskussion in Deutschland festgefahren. Unehrliche Proklamationsrituale beschwören die Notwendigkeit eines massiven Umsteuerns in "Sonntagsreden". Im Alltag dominiert bei den gleichen Akteuren die zementierte Fortsetzung alter Rezepte und Prioritäten der Autoförderung als "Anti-Stau-Programm". Die Angst vor "Volkes Stimme" blockiert jeden Versuch eine Änderung der Verkehrsentwicklung. Das autoorientierte Investieren wird getragen von der Illusion, man könne so das heillos verstopfte System wieder flott kriegen. Man schafft es nicht, aus der Vergeblichkeit des 40jährigen Autosystemausbau mit dem fatalen Resultat von immer mehr Stau zu lernen und das Ziel eines überall und jederzeit flüssigen Autoverkehrs aufzugeben, obwohl Tausende von schnell wieder verstopften neuen Entlastungsstraßen und ausgebauten Autobahnen eigentlich zu denken geben müssten. Der vielfältig verkehrserzeugende Wachstums-Effekt des Auto-Systemausbaus wird immer wieder übersehen. Das Auto wirkt im Verkehr wie das Kuckucksei im Vogelnest. Es monopolisiert das "Futter", die anderen Mitbewerber (Fußgänger, Fahrradverkehr, Öffentlicher Verkehr) werden ausgehungert (erhalten immer weniger Geld, Platz und gesetzliche Rückendeckung) und werden am Ende aus dem Nest (=Verkehrsraum) geworfen.

Trotzdem werden Autos unverdrossen massenhaft produziert und erfolgreich verkauft, ihr "Glanz" strahlt nahezu unverändert, die "Risse im Lack" , die das Umweltthema und Sicherheitsthema in den 80er Jahren gekratzt hatten, sind erfolgreich "wegpoliert". Die Autoprobleme sind heute verdrängt, aus den Köpfen, aus den Medien und von der politischen Agenda. Industrie und Politik suggerieren, die Probleme seien gelöst. Parallel dazu gab es von interessierter Seite eine beharrliche Marginalisierung der Alternativen Fahrrad, Füße und Busse und Bahnen, und mangels professionellen Marketings und engagierter Kommunikation steht der Umweltverbund auf "verlorenem Posten". Kundenfeindlichkeit, Marktferne und das weitgehende Fehlen von Pfiff und Charme sowie von ausreichender Finanzausstattung potenzieren die systematische Marginalisierung.

Selbst die Sprache im Verkehrsdiskurs ist total autofixiert. Eine Fußgängerzone gilt als "verkehrsfrei", obwohl dort nach der Sperrung für Autos meist vier- bis achtmal mehr Mobilität stattfindet. Umgangssprachlich ist Verkehr=Autoverkehr. Das Auto hat nicht nur die Straße sondern auch die Sprache monopolisiert. Das Wort "Straße" umfaßt eigentlich den gesamten öffentlichen Raum einschließlich Gehweg, Radweg, Parkstreifen, Straßengrün. Doch heute wird Straße mit Fahrbahn gleichgesetzt. Ähnlich beim Begriff Mobilität. Sie wird als Auto- Mobilität verstanden, obwohl oft Fußgänger (gemessen an der Zahl ihrer Aktivitäten) viermal mehr mobiler sind als Automenschen. Automenschen sind Kilometerfresser, die unterwegs viel Zeit verplempern, die ihnen für die Aktivitäten fehlt. Fußmenschen gehen mit Distanz sparsam um, suchen Nähe und bevorzugen Ziele mit vielen, eng benachbarten Gelegenheiten. Aber im Alltag gelten nur Automenschen als mobil.

Man sieht, es geht allenthalben um die Psychologie. Und da verheddern sich Verkehrspolitik und -planung unheilvoll in den gängigen, wertgeladenen Begrifflichkeiten. Sie propagieren Verkehrswende als Askese, als Verzicht, als moralinsaure Selbstkasteiung. Dagegen stehen die vollmundigen Slogans der Autofreiheit, Lust, Trieb, Potenz, Begeisterung, Fahrfreude, Fahrkultur. Warum nicht auch von der Gehfreude reden, vom Flaneur, von der Individualität des freien, aufrechten Gangs, von der Lust des Fahrtwindes auf dem Fahrradcabriolet, von der Liebe zu Qualität, von der Mobilitätskultur, vom Genuß an der Stadt, von der Effizienz in der Bahn, der entspannten Mobilität, von Zuverlässigkeit, Vertrauen, Fortschritt, Technik, Service, Kommunikation, man trifft sich, man redet miteinander, man flirtet.

Wer die Verkehrswende wie "sauer Bier" definiert und die Menschen mit "Zuckerbrot und Peitsche" (Push & Pull), wobei die "Peitsche" primär zu Schikanen führt, wird sofort den massiven Widerstand der Autolobby provozieren und in emotionalen Lagerschlachten untergehen. So sind in Deutschland schon viele gut gemeinte Projekte "vor die Wand gefahren worden". Ein schönes Beispiel ist die Tempo-Diskussion. Man kann das als Freiheitsberaubung und willkürliche Schickane gegen Autos kommunizieren. Oder als Fahrhilfe, Fahrerentlastung, Beitrag zu entspannter Fahrkultur, Maßnahme für flüssigen Autoverkehr und gegen den Stau, Maßnahme zur Schonung der Autos und der Geldbeutel der Autofahrer und für ein dauerhaftes Überleben der Autos und der Autofahrer.

Ein anderes Beispiel ist die Monopolisierung der Individualität und Flexibilität für das Auto, den sog. Individualverkehr. Gedacht als Kontrast zum Massenverkehr. Aber was ist individueller und flexibler als das Gehen: man kann jederzeit stehen bleiben, die Richtung ändern, das Tempo ändern. Ähnlich ist es mit dem Radeln. Denken wir bei Individualverkehr an Gehen und Radeln? Nein, weil die Autolobby den Begriff geschickt für das Auto monopolisiert hat. Und umgekehrt ist die Anmutung des Begriffs Massenverkehr natürlich nicht sehr verheißungsvoll. Wer gehört schon gern zu den Transportmassen, zum Massentransport, fast schon wie im Viehwaggon? Dabei gibt es doch auch kleine Mini- und Midi-Busse und Bahnen, es gibt individualisierten und flexibilisierten Öffentlichen Verkehr, das Taxi, den Rufbus. Und mit der Aufteilung in die Abteile gibt es auch in der Bahn Rückzugsmöglichkeiten, auf der Fernreise kann man sich häuslich einrichten, wenn man will. Und in der Bahn ist die Tätigkeit der Reisenden meist sehr viel vielfältiger und individueller als im Auto, die einen lesen, die anderen speisen, die dritten debattieren, die vierten telefonieren, die fünften flirten. Die Bahn ist mobile Bühne, Marktplatz, Flaniermeile in einem. Nur wird das nicht kommuniziert, weil man früher widerspruchslos das falsche Ettikett Massenverkehr akzeptiert hat.

Bgl. Auch: Heiner Monheim: Angst vor dem Autovolk?
Zu den Problemen einer Verkehrswende in Deutschland.
In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2001

Gliederung

Verkehrswende durch Renaissance von Umweltverbund und Urbanität

Prof. Dr. Heiner Monheim

  • 1. Das Fiasko westlicher Verkehrspolitik
    • 1.1 Die immobile Mobilitätspolitik
    • 1.2 Frustrationen der Staugesellschaft
    • 1.3 Tabus führen zu linearem Denken in Politik und Planung
    • 1.4 Das Straßennetz wächst und wächst und …
    • 1.5 Ubiquitäres Parken zu Lasten öffentlicher Räume
    • 1.6 Verkehrsberuhigung: von der Euphorie zur Ernüchterung
    • 1.7 Suburbia ist überall: Ruinierter Straßenraum, verschwundene Urbanität
  • 2. Politikversagen beim Gegensteuern
    • 2.1 Zaghaftigkeit bei den Alternativen
    • 2.2 Autoprobleme durch massiven Kommunikations- und Werbeeinsatz geschickt       "verdrängt"
    • 2.3 Psychologie im Einsatz pro Auto
    • 2.4 Umweltverbund ohne psychologische Raffinesse
    • 2.5 Die Herrschaft über die Begriffe: Effekt der Autogesellschaft
    • 2.6 Verkehrswende per Peitsche und Askese? Ein Holzweg
    • 2.7 Beispiele durch falsche Begriffe verpaßter Chancen
    • 2.8 Verkehrsforschung: Akteuransätze unterentwickelt
  • 3. Moderne Stadt- und Verkehrspolitik muß neue Wege gehen
    • 3.1 Urbanes Bauen für mehr Nachhaltigkeit: vom unverbindlichen Leitbild zur       alltäglichen Realität
    • 3.2 Klare und wahre Preise
    • 3.3 Ein neues Mobilitäts- und Urbanitätsverständnis
    • 3.4 Flexibilisierter Öffentlicher Verkehr
    • 3.5 Systemqualität im öffentlichen Verkehr
  • 4. Rahmen und Mengengerüst für eine solche Verkehrswende
    • 4.1 Rationeller PKW- Einsatz: Mobi-Car
    • 4.2 Attraktive Flächenbahn und attraktiver Flächenbus
  • 5. Ergebnis: stadtverträglicher Verkehr und neue Urbanität
    • 5.1. Koexistenz im Verkehr
    • 5.2. Renaissance der Urbanität
  • 6. Akzeptanz durch Klarheit und Konsequenz
    • 6.1 An das Leitbild glauben
    • 6.2 Gute Beispiele mitteilen
    • 6.3 Kommunikationsoffensive wagen
    • 6.4 Städtebaulich argumentieren